Die gesellschaftlichen, technologischen und kulturellen Entwicklungen der vergangenen beiden Dekaden haben zu einer vielfältigen Entgrenzung unserer Arbeitswelten geführt. Wie muss sich das Verständnis von Führung wandeln, um Antworten auf sich abzeichnende neue Anforderungen zu finden? Unsere Kernthese besteht darin, dass Führung viel stärker als bisher als kooperatives Geschehen zu gestalten ist. Auf dieser Basis werden entlang verschiedener Aufgaben von Führung mögliche Entwicklungsrichtungen aufgezeigt.
Das Thema Führung ist ein Dauerbrenner. Nicht nur in der Praxis von Unternehmen, sondern auch in den Wissenschaften. In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich in der Praxis wie in der Wissenschaft zu wenig konzeptuell Neues zum Thema getan, um wirklich neue Antworten auf die sich wandelnden Anforderungen an Führung zu geben. Auch wenn wir uns als Arbeits- und Organisationspsychologen bei dieser Kritik selbst explizit nicht ausnehmen wollen, so haben wir doch Gedanken anzubieten, in welche Richtung sich Führung verändern könnte, um sich angesichts der im Wandel befindlichen Kontexte neu zu erfinden.
Neue Kontexte der Führung in entgrenzten Arbeitswelten
Die globalen, gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte, die seit einiger Zeit mit dem Begriff Industrie 4.0 in Verbindung gebracht werden, haben für Unternehmen zu einer kontinuierlichen Dynamisierung sozialer wie technologischer Rahmenbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten sowie zu Verschiebungen von Marktgegebenheiten geführt. Es entstehen neue Anforderungen, um am Markt zu bestehen. Die Konsequenzen dieser Entwicklungen für Arbeit und Führung fassen wir unter dem Begriff „Entgrenzung“ zusammen. Der Begriff wurde Ende der 90er Jahre ins Spiel gebracht und meinte zunächst nur die Entgrenzung von Arbeit und Nicht-Arbeit [1]. Diese Entgrenzung hat sich inzwischen vervielfältigt, was uns zur These führt, es sei Zeit, dass sich Führung neu erfindet. Der Prozess der Entgrenzung hat inzwischen (mindestens) folgende Facetten, welche die Führung zutiefst tangieren:
- eine organisationsbezogene Form der Entgrenzung durch zunehmende Komplexität der Arbeitsabläufe und Interdependenz funktional spezialisierter Tätigkeiten.
- eine raum-zeitliche Entgrenzung der Arbeitstätigkeit angesichts zunehmender Mobilität durch Optionen mobiler Arbeit und dem Home Office.
- eine soziale Entgrenzung durch wachsende Heterogenität von Ansprüchen, kulturellen Wertvorstellungen sowie professionellen Perspektiven.
- eine projektbezogene Organisation von Tätigkeiten, was zur tendenziellen Auflösung klassischer Teamarbeit mit personeller Kontinuität führt.
- die schon angesprochene Entgrenzung von Arbeit und Nicht-Arbeit, die inzwischen unter dem Stichwort der Life-Domain-Balance diskutiert wird [2].
Die Formen der Entgrenzung überlagern sich und führen zu neuen Kontextbedingungen für Führung. Leider ist festzustellen, dass die meisten Theorien und Konzepte der Führungsforschung diese Veränderungen kaum reflektieren [3].
Ein problematisches Verständnis: Führung = Führungsverhalten
Beobachten wir, welches Verständnis von Führung sich in der Praxis beharrlich hält – und was sich in vielen Führungsausbildungen widerspiegelt – so stellen wir fest, dass Führung zumeist mit dem Führungshandeln von Vorgesetzten gleichgesetzt wird, also mit dem, was Führungskräfte gezielt tun. Wenn wir Führung mit dem zielorientierten Handeln einer Führungsperson gleichsetzen, dann sehen wir nur ein äusserst kleines Quantum dessen, was Führung ausmacht. Zum einen werden so alle nicht bewusst intendierten Dinge, die Führungskräfte tun, ausgeblendet, obwohl diese im Alltag beträchtliche Wirkungen haben. Zum anderen verschwindet der Umstand, dass Führung ein interaktives Geschehen ist: Führung ist eine spezifische Form der Kooperation unter den Bedingungen von Hierarchie. Wird Führung allein mit Führungshandeln gleichgesetzt, ignorieren wir zudem alle entpersonalisierten Formen von Führung, die nicht nur die Mitarbeitenden, sondern auch die Führungskräfte selbst führen. Gemeint sind damit die organisationsstrukturellen und -kulturellen Kontexte, in denen geführt wird.
Die entgrenzten Kontexte von Arbeit und Organisation, in denen sich Führung vollzieht und in die das Führungshandeln der einzelnen Führungsperson eingebunden ist, verändern das Spiel. Wird dieses Spiel mit traditionellen Vorstellungen von Führung gespielt, so kommt es in der Terminologie des Wissenschaftstheoretikers Kuhn [4] zu Anomalien in Organisationen, an denen deutlich wird, dass bestehende Denk- und Werkzeuge der Führung überprüft werden müssen, um einen Paradigmenwechsel einzuleiten.
Vernetzte Führung in entgrenzten Arbeitswelten
In unseren Ausführungen stützen wir uns auf unterschiedliche Quellen. Zum einen beziehen wir uns auf ein von uns ausgearbeitetes Führungsmodell. Das Modell versteht Führung als kritischen Balanceakt auf drei Dimensionen: der kognitiven, der sozialen und der strukturellen Dimension. Daraus ergeben sich Spannungsfelder zwischen personenbezogenen, strukturellen und kulturellen Aspekten der Führung, die Entwicklungspotenziale aufzeigen. Der Balanceakt der Führung besteht darin, widersprüchliche und spannungsgeladene Anforderungen zu vermitteln, denn Führung ist ein komplexes Geschehen mit nicht intendierten Fern- und Nebenwirkungen [5] [6]. Zum anderen beziehen wir uns auf explorative Studien, die wir in unserer Forschung zu vernetzter Führung in entgrenzten Arbeitswelten realisiert haben [7] [8]. Schliesslich basieren unsere Ausführungen auf Erfahrungen vieler Beratungsmandate.
Vom Motivieren und über Motivierendes
Die Motivation der Mitarbeitenden wird oftmals als eine der grundlegenden Aufgaben von Führung betrachtet; auch aktuelle Führungskonzepte, wie beispielsweise jenes der transformationalen Führung, setzen darauf. Kulturell zeigt die Erwartung an Führungspersonen Mitarbeitende zu motivieren die kulturell tief verankerte paternalistische Seite von Führung. Hier besteht die Gefahr, dass Mitarbeitende infantilisiert werden, da ihnen offensichtlich zu wenig zugetraut wird, eigenverantwortlich und motiviert zu agieren [9]. Aus Sicht der Arbeitspsychologie gilt nach wie vor, dass vor allem der Charakter der zu bearbeitenden Aufgaben darüber entscheidet, welche Motivationsqualität und Motivationsstärke zu ihrer Bearbeitung erzeugt wird. Dieser Umstand ändert sich nicht angesichts einer raum-zeitlichen Entgrenzung von Arbeit. Aufgaben, welche die Kompetenzen der Mitarbeitenden nutzen, bei denen Selbstwirksamkeit erlebt wird, die ganzheitlichen Charakter haben, also von der Aufgabenplanung bis zur Bewertung des Resultats reichen und die ‚last not least’ als sinnvoll erlebt werden, motivieren intrinsisch. Hierfür braucht es keine Präsenz von Führungspersonen, ausser man ist der Meinung, Mitarbeitende kämen zur Arbeit, um einen ‚schlechten Job’ zu machen.
Die Sache mit der Kohäsion
Die Arbeit von Führung am Gefühl der Zusammengehörigkeit in Abteilungen und Organisationen muss mit Vorsicht angegangen werden. Die immer wieder beklagten ‚Silos’, die zu Kooperationsbarrieren entlang von Team- oder Abteilungsgrenzen führen, sind zu einem guten Teil das Resultat der eifrigen Arbeit von Führung an Kohäsion. Ein sozialpsychologischer Befund besagt, dass mit wachsender Kohäsion einer Gruppe auch immer deren Abgrenzung nach aussen verstärkt wird. Aber gerade die erfolgreiche Gestaltung der Kooperationsbeziehungen nach aussen wird in entgrenzten Arbeitswelten für das Gelingen von Führung immer wichtiger.
Daraus ergibt sich die Herausforderung, einerseits auf Kohäsion zu achten, um eine Vereinzelung von Tätigkeiten zu verhindern. Andererseits besteht der Balanceakt darin, unerwünschte Nebenwirkungen einer zu hohen Kohäsion zu vermeiden. Denn dazu zählt auch die Abwehr von Neuem; was bekanntlich meist von aussen kommt.
Das neue alte Zentrum der Führung: Entscheidungen
Die Art und Weise, wie Organisationen zu Entscheidungen kommen, ist ein strukturelles, vor allem jedoch ein kulturelles Spiegelbild von Führung. Dabei geht es nicht allein um das Treffen, sondern auch um das Herbeiführen, das Abholen, das Erzeugen, das Kommunizieren sowie die Überprüfung der Wirkungen von Entscheiden. All dies geschieht auf unterschiedliche Arten, jedoch immer seltener durch individuelles Handeln. Angesichts der gewachsenen Komplexität können viele Entscheide nur aufgrund einer Vielfalt von zugrunde liegenden Informationen und vor allem aufgrund einer angemessenen Bewertung dieser Informationen getroffen werden. Das Herbeiführen tragfähiger, robuster Entscheide – angesichts unvermeidbarer Unsicherheitszonen und Ambivalenzen – bedarf vor diesem Hintergrund der Kooperation. Hier erscheint es uns für die Neu-Erfindung von Führung als relevant, die Spannungsfelder zwischen strategischem, lokalem und persönlichem Sinn zu bearbeiten. Was in einem komplexen Umfeld auf strategischer Ebene Sinn macht, muss auf lokaler oder persönlicher Ebene noch lange nicht als sinnvoll erlebt werden (und umgekehrt). Aufgabe von Führung ist es, geeignete Plattformen bereit zu stellen, auf denen sich Aushandlungs- und Kooperationsprozesse zur Entscheidungsfindung vollziehen können.
Über Kooperation und Vertrauen
Für die Neu-Erfindung von Führung gilt anzuerkennen, dass Führung dies immer mehr werden muss: Ein aktiv zu bearbeitendes Netz von Kooperationsbeziehungen, die nur zum Teil unter Bedingungen der Hierarchie arbeiten und zu einem immer grösser werdenden Teil über die wechselseitige Einflussnahme jenseits von Hierarchie funktionieren (oder eben nicht funktionieren). Dies beginnt im eigenen Unternehmen, wenn Projekt- und/oder Matrixorganisationen verschiedene Formen von Führung kombinieren. Mindestens ebenso relevant ist dies in der Zusammenarbeit mit Kunden, Zulieferern, Konkurrenten und anderen Stakeholdern. Vernetzte Führung sieht sich vor diesem Hintergrund zunehmend Spannungsfeldern zwischen Kooperation und Konkurrenz gegenüber, die nicht über Hierarchie reguliert werden können. Soziologie, Psychologie und Managementforschung verweisen für diese Kontexte auf die Bedeutung von Vertrauen, um die in den Spannungsfeldern liegenden Konfliktpotenziale angemessen adressieren zu können. Wie wir wissen, trägt die Bewältigung von Störungen, unerwarteten Ereignissen und Fehlern zum Aufbau von Vertrauen in Kooperationsbeziehungen bei. Führung braucht für ihre Neu-Erfindung eine zunehmendes Mass an Selbst- und Systemvertrauen im Umgang mit Unerwartetem, das immer wieder neu zu erarbeiten ist [10].
Zwischen Routine und bewusst erzeugter Varianz
Standardisierungen, detaillierte Prozessvorgaben und Standard Operation Procedures sind in vielen Organisationen inzwischen strukturell und kulturell fest verankert. Sie stellen Möglichkeiten für entpersonalisierte Formen der Führung bereit. Leider schiessen sie häufig über das Ziel hinaus, denn sie verengen Handlungsoptionen für die personalisierte Seite von Führung, weil sie diese nicht nur verregeln, sondern auch übersteuern können. Dahinter steht die Überlegung durch die Reduktion von Varianz zu einem besseren Funktionieren des Unternehmens insgesamt zu gelangen. Wenn aber nun die Prinzipien der Wertschöpfung in den Organisationen, die stark durch die zunehmend entgrenzten Arbeitskontexte gekennzeichnet sind, immer mehr auf Flexibilität, Agilität und Wandelbarkeit ausgerichtet sind, müsste dies dann nicht auch und gerade für eine moderne Führung gelten? Müsste Führung dann nicht konsequent die ‚Maximierung auf ein Minimum’ von Verregelung anstreben?
Es stellt sich die Aufgabe, Settings zu etablieren, in denen (auch unerwartete) Varianz produktiv wird, um Flexibilität und Wandelbarkeit nicht nur als Anforderung an die Mitarbeitenden, sondern auch als Charakteristikum der Organisation zu etablieren.
Die Neu-Erfindung von Führung
Die gesellschaftlichen technologischen, medialen und kulturellen Veränderungen der vergangenen beiden Dekaden, die zur Entgrenzung von Arbeit und Führung beigetragen haben, werden die ein oder andere Überzeugung über Führung in Zukunft immer stärker in Frage stellen. Eine Fokussierung auf den Einzelnen und sein Führungshandeln greift zu kurz. Es wird daher auch immer weniger sinnvoll sein, in Führungsausbildungen das individuelle Verhalten in den Fokus zu stellen. Die Vernetztheit von Führung in unterschiedlichsten Kooperationsbeziehungen sollte daher verstärkt Eingang in Seminare finden und komplementär ‚on the job’ entwickelt werden [11].
Allerdings braucht es hierfür die Dekonstruktion zentraler Glaubenssätze der Führung. Wir möchten dies am Thema Zielvereinbarungen verdeutlichen. Es gehört zur fest etablierten Praxis vieler Organisationen, smarte Ziele auf ihre Mitarbeitenden ‚herunterzubrechen’. Abgesehen von unappetitlichen Konnotationen dieser Formulierung, stellen wir in Frage, wie weit dies sinnvoll ist. Stellt die Festlegung von Zielen nicht die flexible Handlungsfähigkeit und die situativ relevante Erzeugung von Varianz in Frage? Ist dies nicht eine Behinderung für Dynamik und Wandelbarkeit? Können die Ziele in den einzelnen Bereichen einer komplexen Unternehmung überhaupt so formuliert werden, dass es nicht systematisch zu strukturell angelegten Konflikten zwischen diesen Bereichen führt? Vermutlich erfreuen sich Zielvereinbarungsgespräche nicht zuletzt aus diesem Grund eher zurückhaltender Begeisterung unter den Beteiligten – sowohl bei Mitarbeitenden als auch bei Führungskräften. Unserem Kollegen Felix Frei verdanken wir den Vorschlag, nur noch Führungskräfte direkt über Ziele zu führen, die selbst wiederum Führungskräfte führen. Mit allen anderen Mitarbeitenden werden in diesem Szenario keine direkten Zielvereinbarungen mehr geführt. Das angestrebte Resultat ist, dass die unterste Ebene von Führungskräften, mit denen Zielvereinbarungen noch persönlich geführt werden, für sich und ihren Verantwortungsbereich mehr unternehmerische Handlungsspielräume (für alle Beteiligten) gewinnen [12]. Letztlich wird die Neu-Erfindung von Führung nur gelingen, wenn Möglichkeiten geschaffen werden, damit aus Mitarbeitenden selbstbewusste und – im Hinblick auf die Kollegen, Vorgesetzten und die Organisation – vertrauende Kooperationspartner werden, die Unerwartetes, Fehler, Konflikte und Konkurrenz als integrale, Entwicklungen ermöglichende Zutaten guter Entscheidungen betrachten.
LITERATUR
[1] Voß, Günter G.: Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft. Eine subjektorientierte Interpretation des Wandels der Arbeit. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. 31. 1998. S. 473-487.
[2] Ulich, Eberhard; Wiese, Bettina, S.: Life Domain Balance. Konzepte zur Verbesserung der Lebensqualität. 2011.
[3] Avolio, Bruce; Walumbwa, Fred; Weber, Todd: Leadership: Current Theories, Research, and Future Directions. In: Annual Review of Psychology. 2009. S. 421-449.
[4] Kuhn, Thomas, S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 5. Auflage. 1981.
[5] Clases, Christoph; Frei, Felix: Führung in Balance-kritischer Entwicklung. Wirtschaftspsychologie. 2. 2012. S. 4-13.
[6] Clases, Christoph: Führung als kooperatives Geschehen. In: Grenzgänge der Arbeitsforschung. Eine Festschrift für Theo Wehner. 2014. S. 92-105.
[7] Bodmer, Christian; Bomatter, Matthias; Imboden, Lorenz; Kohli, Bjoern; Schwager, Mirjam; Sigrist, Daniel: Aktuelle Herausforderungen und Spannungsfelder in der Führung aus Sicht des mittleren Kaders. 2014 (Bericht zur Forschungswerkstatt).
[8] Eppler, Timo; Loehr, Cedric; Pfeffer, Diana; Zoppi, Francesco: Die Zukunft der Führung (Delphi-Studie). 2014 (Bericht zur Forschungswerkstatt).
[9] Gagné, Marylene; Deci, Edward L.: Self-determination theory and work Motivation. Journal of Organizational Behavior. 26. 2005. S. 331–362.
[10] Weick, Karl E.; Sutcliffe, Kathleen. M.: Managing the unexpected. Resilient performance in an age of uncertainty. 2. Aufl. 2007.
[11] Clases, Christoph; Frei, Felix: Boxenstopp im Führungsalltag. Ein komplementärer Weg der Führungsentwicklung. Alpha, 09./10. Juli 2011.
[12] Frei, Felix: Im Fluss. Unbehagen am Change Management. 2014. S. 192 ff.
Christoph Clases, Theo Wehner