Die neue Struktur für Plattform-Ökonomie

Die Anzahl von Konzepten, die eine besondere strategische Ausrichtung von Unternehmen beschreiben, ist kaum zu übersehen. Die sie kennzeichnenden Attribute reichen von modular, lean, fraktal, virtuell bis zu dem für die vorherigen Auflagen gewählten Zusatz 4.0. Die Konzepte richten dabei immer das Vergrößerungsglas auf eine vermeintlich neu entdeckte oder im Zeitpunkt besonders wichtige Herausforderung und stellt sie in den Mittelpunkt. In meinem Buch „Unternehmung 4.0“ bezeichnete der Zusatz 4.0 die generelle Betonung der Digitalisierung als Leitmotiv. Es wurden Einflüsse der Informationstechnik auf neue Businessmodelle untersucht und neue Techniken zur Automatisierung von Geschäftsprozessen vorgestellt. Dieser Ansatz bekommt mit dem Begriff „composable“ eine stärkere inhaltliche Fokussierung auf einen zukunftsorientierten Unternehmenstypen, dem „Composable Enterprise“.

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Prof. August-Wilhelm Scheer ist einer der prägendsten Wissenschaftler und Unternehmer der deutschen Wirtschaftsinformatik und Softwareindustrie. Seine Bücher gehören zu den Standardwerken des Geschäftsprozessmanagements; die von ihm entwickelte Managementmethode ARIS für Prozesse und IT wird in vielen Groß- und mittelständischen Unternehmen international eingesetzt. Er ist Gründer erfolgreicher Software- und Beratungsunternehmen. Zu den Unternehmen zählen das Beratungshaus Scheer GmbH, das Softwareunternehmen Scheer PAS GmbH und die imc AG für digitale Lerntechnologien.

Zur Förderung des anwendungsorientierten Forschungstransfers hat er im Jahr 2014 das August-Wilhelm Scheer Institut für digitale Produkte und Prozesse gGmbH gegründet. Als Unternehmer und Protagonist der Zukunftsprojekte „Industrie 4.0“ und „Smart Service World“ arbeitet er aktiv an der Gestaltung der Digital Economy. 2017 wurde Scheer in die Hall of Fame der Deutschen Forschung aufgenommen.

Innovations- und Anpassungsfähigkeit als zentraler Fokus des „Composable Enterprise“

Die Eigenschaft „composable“ wird am einfachsten mit „zusammensetzbar“, „montierbar“ oder „komponierbar“ übersetzt. Der Begriff wurde wohl zuerst von der Analystenorganisation Gartner um das Jahr 2020 in mehreren Forschungsbeiträgen entwickelt und erfreut sich zunehmender Beachtung. Er hebt in Zeiten stürmischer wirtschaftlicher Veränderungen und neuer IT-Entwicklungen mit Innovations- und Anpassungsfähigkeit besonders wichtige und notwendige Eigenschaften von Unternehmen hervor. Diese werden einerseits von dem stürmischen Unternehmensumfeld und andererseits von den Chancen der Entwicklung der Informationstechnik gefordert.

Das wirtschaftliche Umfeld erfordert durch Entwicklungen der Pandemie, politischer Instabilitäten bis Krieg, Inflation, Fachkräftemangel, Lieferengpässe, Klimawandel, politische Regelungen und daraus abgeleiteter gesellschaftlicher Werteänderungen extreme Anpassungsfähigkeiten von Geschäftsmodellen und -prozessen. Gleichzeitig eröffnen die rasanten Entwicklungen der Informationstechnik neue Möglichkeiten, diesen Herausforderungen zu begegnen, aber auch von sich aus Innovationen zu erzeugen. Dieses bringen die Begriffe agil, flexibel, discovery (hier als Innovationsfreudigkeit bezeichnet) und resilience (Widerstandsfähigkeit gegenüber Angriffen von außen) zum Ausdruck. Die Gartner Group definiert das Composable Enterprise entsprechend: „A composable enterprise is an organization that can innovate and adapt to changing business needs through the assembly and combination of packaged business capabilities.” (Gaughan et al., (2020)).

Im Zentrum steht der Begriff der „Packaged Business Capability (PBC)“.

Dieses ist inhaltlich eine in sich geschlossene Anwendungsfunktion oder Geschäftsprozesseinheit. Damit wird dem Modulierungskonzept gefolgt. Von hier wird bei Gartner der direkte Weg in die IT-Welt beschritten und die PBC als gekapselte Softwarekomponente, welche die inhaltlichen Eigenschaften durch die erforderlichen IT-Funktionen unterstützt (vgl. Abb.1). Die bisher veröffentlichten Ausführungen der Literatur lassen noch Spielraum für Interpretationen. Trotzdem können folgende Eigenschaften festgehalten werden. Jede PBC (als Fünfeck dargestellt innerhalb des fett ausgezogenen Fünfeckrahmens) ist eine in sich gekapselte und (weitgehend) autonome Softwareeinheit mit den benötigten Services. Ein Service ist dabei eine feinere, ebenfalls gekapselte Softwareeinheit, die als weißer Kreis mit Verbindungen dargestellt ist. Die PBC’s werden zu komplexeren Anwendungen (Business Applications) komponiert oder orchestriert.

Grafik1_Composable Enterprise

Die Verbindungen zwischen den PBC’s werden über definierte Schnittstellen, sogenannte API’s, (Application Program Interface) oder Ereignissteuerung (Events) geregelt. Bei Anwendung von API’s stellt ein PBC einen Dienst bereit, über den ein anderes PBC auf Daten und Funktionen des PBC zugreifen kann. Bei einer Ereignissteuerung (Event Driven Architecture EDA) meldet eine PBC Ereignisse (z.B. ein PBC für die Auftragsannahme, die Ankunft eines neuen Kundenauftrags in einem elektronischen Briefkasten), worauf die Auftrag weiterverarbeitenden PBC’s reagieren. Beide Verfahren führen zu einer losen Kopplung der PBC‘s und damit zu einer hohen Flexibilität, da PBC’s unabhängig voneinander weiterentwickelt, ausgetauscht oder angekoppelt werden können.

Mit experience werden die Erfahrungen des Benutzers mit dem Anwendungssystem bezeichnet. Diese Schnittstelle betrifft insbesondere das User Interface eines Systems. Erfahrungsgemäß ändern sich die Anforderungen für Auswertungen häufig. Deshalb kann das User Interface von der Verarbeitung getrennt und unabhängig verändert werden. Dies bezeichnet man als Headless Software. Die Änderungen des User Interfaces kann dann von den Benutzern selbst mittels Low-Code durchgeführt werden. Die Entwicklung, Composition und Ausführung der PBC’s wird von einer Digital Business Technology Plattform (im Weiteren auch als Application Composition Platform bezeichnet) übernommen. Das Business Ecosystem beschreibt das wirtschaftliche Umfeld des Unternehmens, das die Anforderungen an Flexibilität und Innovationsfähigkeit des Unternehmens definiert und damit das Design der PBC’s und Anwendungen strategisch bestimmt.

Beziehungen zwischen Organisationsstrukturen und dem „Composable Enterprise“

Das „Composable Enterprise“ ist ein Konzept, wie die Aufgaben einer Unternehmung möglichst einfach und schnell auf allen Ebenen aus heterogenen Komponenten zusammengesetzt, verbessert und innoviert werden kann. Damit besteht ein Zusammenhang zur betriebswirtschaftlichen Organisationstheorie und zweckmäßigen Strukturierung von Unternehmen. Allerdings begründet die betriebswirtschaftliche Organisationslehre ihre Konzepte mit allgemeinen Vor- und Nachteilen, ohne die dafür passenden IT-Unterstützungen im Detail auszuführen. Dagegen reicht das Composable Enterprise von der Unternehmensstrategie über organisatorische Änderungen bis zur IT-Ausführung. Bei den Ausführungen von Gartner dominiert aber der IT-Bezug, so dass Hinweise auf adäquate Organisationsstrukturen fehlen, wie aus der Abbildung 1 hervorgeht.

Composable Enterprise reicht von Unternehmensstrategie über organisatorische Änderungen bis zur IT-Ausführung.

Da aber das beste Composition-System wenig nutzt, wenn es nicht zur Organisation passt, weil die Geschwindigkeit und Flexibilität durch Zuständigkeits-, Änderungs- und Abstimmungsdiskussionen zwischen verschiedenen Organisationseinheiten verloren geht, soll auf den Zusammenhang zu Organisationsstrukturen eingegangen werden. Ein Bezug besteht zu dem Begriff „modulares Unternehmen“, bei dem eine komplette Prozessbearbeitung in einer aufbauorganisatorischen Einheit mit allen benötigten Funktionen unternehmerisch ausgeführt wird (Wildemann, H. (1998)). Gemeinsam genutzte Funktionen, die häufig als Backoffice-Funktionen nicht wertschöpfend sind, werden als shared services zur Verfügung gestellt (Vgl. Abb. 2).

Bei einer produktbezogenen modularen Organisation werden dann für unterschiedliche Produktgruppen autarke „Unternehmen“ innerhalb des Unternehmens gebildet, um schneller auf Kundenwünsche eingehen zu können oder neue Produktinnovationen an den Markt zu bringen. Die composable IT-Struktur unterstützt dieses Konzept überzeugend, da in diesen fokussierten Einheiten die Bereitschaft und das Wissen vorhanden sind, um die Flexibilität der composablen IT-Architektur auszunutzen. Umgekehrt können diese Einheiten nur eine geringe Flexibilität entfalten, wenn sie bei einem monolithischen System ihre funktionalen Anforderungen ständig mit allen anderen Einheiten abstimmen müssten. Bei einer funktionalen Unternehmensorganisation, bei der die Geschäftsprozesse quer zu den Funktionsbereichen verlaufen, kann die composable IT-Architektur dagegen nur eine geringe Flexibilität entfalten. Es können sich zwar die funktional organisierten Abteilungen flexibler entwickeln, die Auswirkungen auf die Geschäftsprozesse der einzelnen Produktgruppen sind aber wegen des Abstimmungsaufwandes zwischen ihnen geringer.

Grafik2_Composable Enterprise

Dieser und auch Begriffe wie das „fraktale Unternehmen“ beziehen sich vor allem auf die aufbauorganisatorische Gliederung eines Unternehmens oder einer Fabrik, nicht aber auf die Kapselung von Funktions- oder Prozesseinheiten, den packaged business capabilities. Zudem verfolgen diese Architekturen nicht konsequent durchgängig den Lifecycle von dem Entwurf bis auf die Implementierungsebene der erforderlichen Informationstechnik und betonen auch nicht  den dynamischen Aspekt der ständigen Entwicklung und Veränderung des Unternehmens.

Einführungshinweise zum composable Enterprise

Die Einführung des Composable Enterprises ist ein mehrjähriges Projekt, da bei einem bestehenden Unternehmen nicht gleichzeitig alle Systeme ersetzt werden können. Trotzdem kann man in neuen Bereichen oder in besonders dringend, nach mehr Flexibilität verlangenden Bereichen sofort beginnen. Hier ist dann die Integration zu den Altsystemen über API-Technologien besonders wichtig. Ausgang können interne Engpasssituationen sein, die kurzfristig behoben werden müssen oder Marktänderungen, auf die durch ein verändertes Businessmodell reagiert werden muss.

Gaughan D., Natis Y., Alvarez G., O’Neill M. (2020): Future of Applications – Delivering the Composable Enterprise. Gartner, Inc.

Wildemann, H. (1998). Die modulare Fabrik: Kundennahe Produktion durch Fertigungssegmentierung.

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